als Paradigma experimenteller Arbeit
Künstlerisch-architektonische Installation Im Kraftwerk KG17
Wir erfahren in den letzten Jahren ein zunehmendes Interesse an der Handlungsfähigkeit anderer Wesenheiten als (nur) des Menschen. Diese Wesenheiten können Tiere oder Pflanzen sein, aber auch Materialien oder einfach “Materie” (matter). Wie verändert sich unsere Welt, wenn wir diese Handlungsfähigkeit zulassen oder sogar einladen? Wie müssen wir uns verändern, um ihr Raum zu geben? Was bedeutet das für künstlerische Arbeit oder architektonische Gestaltung, wenn diese nicht mehr allein das Produkt unseres menschlichen Gestaltungswillens ist? Was bedeutet es für Energie, Form, Raum, Material, Produktion?
Dies thematisiert eine Ausstellung von Architektur-Studierenden der Universität Innsbruck in der historischen Turbinenhalle des ehemaligen Kraftwerks KG17 in Mühlau. In einer architektonischen Rauminstallation werden die Grenzen zwischen dem Geplanten und dem Zufälligen, dem Kontrollierten und dem Unkontrollierten ausgelotet. Ein aus Vulkanfiber erstellter “Abdruck” der ehemals zur Stromerzeugung aus Wasserkraft genutzten Turbinen bespielt als deren loses Spiegelbild das Raumvolumen der Turbinenhalle. Bei der Herstellung dieses Abdrucks wird auf das Verfahren des Tiefziehens Bezug genommen, eine der technischen Verarbeitungsmöglichkeiten dieses formbaren Materials.
In experimentellen, hands-on Untersuchungen erarbeiten Teams von Studierenden über einen Zeitraum von 3 Monaten hinweg gemeinsam am Objekt unterschiedliche Wege, gestalterisch mit diesem lebendigen, “eigenwilligen” Material umzugehen. Gestaltung liegt hier nicht in der Umsetzung einer konkreten Vorstellung der Entwerfenden, sondern in ihrer individuellen, direkten Kommunikation und in Wechselwirkung mit dem Eigenleben des Materials. Form Intention und Material Reaktion werden in einem Dialog miteinander in Einklang gebracht; das Geplante, Unvorhergesehene und Zufällige wird in einem offenen Prozess verhandelt und in weiteren Arbeitsschritten integriert und verarbeitet. Der Beitrag jedes Akteurs ist im Gesamtprodukt enthalten.
Die gebaute Installation erfordert ein Umdenken sowohl bei der Herstellung der Formteile als auch ihrer Fügung. Erwartet und unerwartet auftretende Form-Variationen erfordern Spielraum in Produktion, Verbindung und in den dafür zu entwickelnden architektonischen Details. Der Eigenwille des Materials übt hierbei einen erheblichen Einfluss auf das entstehende Gesamtgebilde (Form- und Raumgefüge) aus und birgt Potential für Neu- und Umdeutungen. An die Stelle eines geschlossenen Systems basierend auf Ursache und Wirkung tritt das offene Spiel zwischen dem Kontrollierten und Unkontrollierten. Der Spielraum erhält Bedeutung als gestaltgebende Komponente.
Leitung: Karolin Schmidbaur, Gilbert Sommer
Assistants: Valentin Fick, Jonas Klett
Studierende: Fabian Braun, Lukas Exner, Jonathan Fleger, Pauline Heil, Moritz Heger, Benjamin Hering, Anna Malina Heß, Marie Keppler, Julia Mehner, Pia Nagl, Susanne Oberhollenzer, Yunus Oezen, Tamara Pappalardo, Robin Pohl, Mario Pramstaller, Johannes Prsa, Yannick Reuther, Linda Schnirzer, Hanna Strassenberger.
Supporters: Dr. Manfred Joseph, Vulkanfiber Ernst Krüger GmbH & Co KG
Georg Kofler, Vermessung Büro Kofler
Christoph Opperer, Institut für experimentelle Architektur, Hochbau
Vulkanfiber
„leichter als Aluminium, härter als Leder und steifer als die meisten Thermoplaste“1
Vulkanfiber wurde erstmals 1859 industriell hergestellt und gehört zu den ältesten Kunststoffen. Sie besteht vollständig aus den nachwachsenden Rohstoffen Baumwolle und Zellulose, deren Fasern durch ein Pergamentierbad gezogen, angelöst, und verbunden werden. Bis 1930 wurde Vulkanfiber aufgrund ihrer guten Materialeigenschaften in vielen Anwendungsbereichen eingesetzt. Aus dem Alltag kennen wir sie zum Beispiel von den holzverstärkten Schalenkoffern unserer (Ur)großeltern. Mit den aufkommenden petrochemischen Kunststoffen Mitte des 20. Jahrhunderts wurde das Material vom Markt verdrängt und findet nurmehr in speziellen, technischen Einsatzgebieten Anwendung. In letzter Zeit hat die Diskussion um nachwachsende Rohstoffe ein neues, lebhaftes Interesse an diesem papierbasierten Produkt entfacht.
Herstellung und Verwendung
Vulkanfiber2 besteht aus saugfähigen und ungeleimten Spezialpapieren, die durch Zugabe einer Pergamentlösung zu einem homogenen Material verbunden werden. Die Dicke des resultierenden Produkts wird durch die Anzahl der einzelnen Papierschichten zu Beginn des Herstellungsprozesses definiert und rangiert zwischen 0,2 bis 12 mm.
Vulkanfiber kann als Vorläufer von Kunststoffen mit ähnlichen technischen Eigenschaften wie Plastizität (Formbarkeit), Haltbarkeit, Elastizität, Hitze- und Temperaturbeständigkeit sowie chemischer Stabilität angesehen werden. Durch den Prozess des Pergamentierens entsteht ein homogenes Material mit verbesserter Festigkeit im Vergleich zu Rohpapier.
In der heutigen Produktion wird der Rohstoff für Vulkanfiber in einer Mischung aus Zellulose und Baumwolle aus Abfällen der Textilindustrie hergestellt. Abhängig von den technischen und wirtschaftlichen Anforderungen ihrer jeweiligen Anwendung reicht die Mischung von 100 % Zellulose bis 100 % Baumwolle, je nach erforderlicher Zugfestigkeit und Zähigkeit des resultierenden Materials.
Nach Ablauf seiner Lebensdauer kann das Material aus dem Verwertungskreislauf ausgeschieden werden, zum Beispiel durch Kompostierung ohne aufwendige Wertstofftrennung. Erste Tests haben auch die Möglichkeit gezeigt, Vulkanfiber zu recyceln und als Füllstoff zu verwenden, ähnlich wie bei der Verwendung von Holzmehl. Die hohe Flexibilität der Faser, seine Zähigkeit und Elastizität sowie hervorragende elektrische Isolationswerte bieten vielfältige technische Einsatzgebiete, die viele Branchen nutzen (z. B. Dichtungen und Isolierungen, Trägermaterial für Schleifscheiben, Laminatprodukte, Osmose- Filterung).
1 Beschreibung Materialeigenschaften: http://hkpaper.us/fibre.html
2 Textfakten aus: Manfred Joseph (Geschäftsführer Vulkanfiber Ernst Krüger GmbH & Co KG), “Vulkanfiber, Renaissance eines alten Werkstoffes”, in International Symposium Werkstoffe aus Nachwachsenden Rohstoffen, 2001.
Forschungsprojekt an der Universität Innsbruck, Fakultät für Architektur, Institut für experimentelle Architektur, Hochbau
Bislang wurden die positiven Eigenschaften dieses Materials in der Architektur übersehen. Ein Forschungsprojekt von Karolin Schmidbaur, Lukas Allner, Gilbert Sommer und Gonzalo Vaíllo am Institut für experimentelle Architektur, Hochbau, Arbeitsbereich Schmidbaur, an der Universität Innsbruck („Halfforms – Material agency in spatial formations“ FWF PEEK AR808 – GBL) beschäftigt sich seit 2023 mit Möglichkeiten seiner Anwendung in der Architektur.
Die umfassenden, positiven Eigenschaften von Vulkanfiber und seine Beziehung zu Formvorgaben ist ein wesentliches Thema der architektonisch-künstlerischen Forschung. Eine Reihe physikalischer Experimente testen Formintelligenz, mechanische Eigenschaften und Haptik, und analysieren die daraus entstehende Ästhetik sowie Verarbeitungstechniken für architektonische Anwendungen.